Vertikal verlaufende Linien, die am oberen Ende jeweils von einem kleinen Kopf abgeschlossen werden, fügen sich zu einem beschwingten Ensemble zusammen. Dabei bricht Fausto Melotti bewusst mit den angedeuteten Prinzipien der Struktur und Ordnung, in dem er die Linien nicht streng geometrisch setzt, sondern durch Abweichungen von der Senkrechte eine spielerische Komponente einbringt. Im Wechsel von hellen und dunklen Linien entsteht ein Rhythmus, der an eine abstrahierte Partitur denken lässt. Gleichzeitig vermittelt das zarte Gefüge eine poetische Note. Die farbliche Gestaltung erscheint harmonisch: Melotti konzentriert sich gänzlich auf die Nicht-Farben Schwarz und Weiß, die betont zurückhaltend und subtil wirken, in ihren verschiedenen Nuancen, wie sie sich in unregelmäßiger Struktur auf Gips entfalten, jedoch eine besondere visuelle Kraft entwickeln.
Die in diesem Werk vorherrschenden Spannungsmomente, die sich aus dem Kontrast zwischen Linie und Fläche, Geometrischem und Organischem, Strenge und Leichtigkeit ergeben, reflektiert Melottis vielseitige Begabung: Dieser war nicht nur Künstler und darüber hinaus musikalisch versiert, sondern hatte Physik, Mathematik und Ingenieurwesen studiert. So spiegelt sich die Verbindung naturwissenschaftlicher Ideen mit den Künsten auch in seinen Arbeiten wider. Melottis vielseitiger Zugang zeigt sich gleichermaßen in der Bandbreite der von ihm verwendeten Medien und Materialien. Neben Gedichten, Malereien und einem umfassenden zeichnerischen Werk umfasst sein Œuvre Keramiken, Reliefs und sonstige Skulpturen. Immer sind es auch Themen menschlicher Existenz oder Befindlichkeiten, die Melotti zum Ausdruck bringt. Die offenkundige Sensibilität der vorliegenden Arbeit, die seinem Spätwerk zuzuordnen ist, wird ebenso in seinen Skulpturen sichtbar.
Melotti gilt als bedeutender Vertreter der Abstraktion in Italien. Er war ein Zeitgenosse und Freund Lucio Fontanas, mit dem er sich in den 1930er-Jahren der in Paris gegründeten Künstlervereinigung „Abstraction-Création“ anschloss. Im Laufe seines künstlerischen Schaffens, das vor allem in seinen späteren Dekaden Beachtung fand, erhielt er diverse Preise. 1986, In seinem Todesjahr, wurde Melotti bei der Biennale von Venedig postum mit dem Goldenen Löwe gewürdigt.