Während Tàpies durchaus streng komponierte Arbeiten von großer Ruhe und Klarheit geschaffen hat, steht „Colom“ beispielhaft für jene Werke, die Ausdruck von Energie, Spontaneität und einem expressiven Gestus sind. Lediglich der Titel, der aus dem Katalanischen mit ‚Taube‘ zu übersetzen ist, gibt einen möglichen Hinweis auf den hier dargestellten Bildgegenstand. Eingefasst in eine Ellipsenkomposition, bündelt sich auf weiß-grauem Hintergrund eine Ansammlung aus wild gesetzten, roten Strichen, die keine eindeutige Identifizierung des Sujets zulässt. Sandige Partien, die sich mit den anderen (Nicht-)Farben vermischen, verstärken den anarchistischen Charakter des Werks. Mit auslaufender Farbe und in gut sichtbarer Größe hat Tàpies seine Initialen darüber hinaus rasch auf der Leinwand festgehalten.
Besondere Aufmerksamkeit gilt in diesem Gemälde der Oberflächenstruktur, die durch Craquelé und andere Unregelmäßigkeiten hervorsticht. Grundsätzlich spielt die Materialität bei Tàpies eine große Rolle: ob Sand, wie in diesem Fall, oder Erde, Gips, Marmorstaub oder Leim, die in anderen Werken mit Farbe vermengt werden. Mit ihren Einkerbungen und Markierungen avancieren die Bildträger selbst zum Bilderlebnis.
„Man muß erst in einen Dialog mit den Materialien treten, denn die Materialien sprechen, sie haben ihre eigene Sprache. Daraus entsteht der Dialog zwischen dem Künstler und seinem Material. Häufig muß man eine Idee fallenlassen, weil das Material der Arbeit widerspricht. Dann beginnt eine Art Kampf zwischen der Idee, die ich auszudrücken suche, und der materiellen Form, die ich ihr geben möchte.“ (Catoir 1997, S. 106)